Markus Orths

{[(Weile, Weile)]}

Eine kurze Erzählung zu einem Bild:
Ernst Ludwig Kirchner: Der Maler. Selbstbildnis


Noch sitze ich.
Noch bin ich ich.
Noch bin ich hier.

(Sie ist wieder bei mir gewesen. In der Nacht. Sie kommt oft, öfter, als mir lieb ist. Sie flüstert dann.)

Ich weiß nicht, ob ich aufstehen soll. Ich müsste mich, wenn ich mich aufrichte, aufrichtig bemühen, etwas ... zu tun.

(Sie ist ein flüsterndes Wesen. Ich bin die Hexe Leben, zischt sie, komm. Flicht ihr Haar zu einem Tuch, taucht das Tuch ins weiße Wasser, tupft meine Stirn und meine Handflächen und säubert sie vom Grün. Ich bin die Hexe Le­ben, sagt sie, ich will, dass du dich hebst vom Stuhl.)

Noch sitze ich.
Noch bin ich jetzt.
Mein Blick im Spiegel.

(Hexe, schöne Hexe. Spricht leise, ihr Flüstern ein Wispern fast. Ver­stehe sie kaum. Doch wage ich nicht, sie zu bitten, die Stimme zu heben.)

Noch bin ich hier.
Zwischen Sitzen und Aufstehen.
Tun und Nicht-Tun.
Getan-Werden und Getan-worden-Sein.

[Neben dem Tisch schläft ein blauer Ti­ger. Den ganzen Tag lang. Wenn er schläft, ver­daut er Geschehenes. Nachts, bevor er mich und den Tisch und meinen Weile-Stuhl verlässt, bevor er in die Gassen geht und Fleisch aus den Menschen reißt, faucht er. Urkurz. Schlägt seine quadratische Pratze ins Tisch­tuch. Er ist da. Er wird wie­der­kommen. Jeden Morgen. Ich sehe seine blaue Schwanzspitze.]

Ich habe schon den Rücken gebogen. Ich habe schon die Hand aufs rechte Bein gelegt. Es muss nur noch Schnellkraft in mich fließen, schon wäre ich über der Stelle, an der mein Kopf sich gerade befindet. Aber ich warte. Ich weile.

{Wenn der Ti­ger schläft, erwacht die Pflanze. Sie ist mir nahe. Gekommen. Näher, als ich es je für möglich gehal­ten hätte. Wächst unauf­hörlich. Langsam, unausweichlich wächst sie mir entgegen. In mich hinein will sie. In mir breit machen will sie sich. Sanft hält sie meinen Arm um­schlängelt.}

Aber noch bin ich da. Noch weiß ich nicht, was ich tun soll. Stehe ich auf, muss ich mit dem Han­deln beginnen.

(Steh auf, sagt die Hexe.)

{Bleib, sagt die Pflanze.}

Wartet noch, sage ich.

[Und der Tiger geht in die Nacht.]

(Die Hexe haust im Ofen. Ich kann sie des Tags nicht sehen. Sie versteckt sich in der Kälte des Erloschenen. Sie hat das Rohr des Ofens aus der Wand gerissen und auf meine Stirn ge­richtet. Sie lauscht meinen Sätzen, meinen Gedanken-Sätzen, meinen Ti­ger-Sätzen, meinen Pflanzen-Sätzen. Sie lauscht mit großem, schwarzem Ofenrohr-Ohr.)

Wenn ich nur wüsste, was zu tun wäre, ich täte es. Aber statt dass Einer käme und mir sagte, was zu tun wäre, kommt Nie­mand, ein Niemand, der mir gleicht, dort, im Spiegel, in der Spiegel-Fratze, bin ich das?, sehe ich so aus?, ist das mein Kör­per-Ungetüm?, sind das meine sich lang­sam lösenden Au­gen­brauen, ist das meine Haltung?, das ge­bückte Auf-dem-Sprung-Sein?, das Nicht-wissen-wohin?, das soll ich sein?, die­ser Narr, dieser Warte-Narr, dieser Mann ohne Ent­schluss?

{Gib dich mir hin, sagt die Pflanze, lass dich fallen, ich kenne den Weg und das Werden und das Welken. Saugt sich unter meine Haut. Ihr Dorn sticht meinen Arm, und es ist Schmerz. Sie fließt mir langsam in den Kör­persaft. Meine Hände färben sich grün, meine Stirn, mein Ge­sicht. Meine Lippen glänzen in der Farbe des Blüten-Bluts.}

(Komm schon, sagt die Hexe Leben, ich säubere dich, und sie kriecht aus dem Rohr, und sie flicht ihr Haar, und sie ver­sucht, das Erden-Grün der Pflanze abzutupfen.)

[Die Nacht ist zum Fressen da, der Tiger legt sich morgens ne­ben den Tisch und würgt das nächtlich Gefressene zu Boden und frisst es noch einmal, ein ewiger Wiederkäuer desselben, es schmeckt ihm, erst wenn er tigersatt ist, kann er schlafen.]

Ich nicht, ich kann nicht schlafen, nie, bin weder satt noch hung­rig, bin beides zugleich, bin papp-hungrig und dunkel-wach und leben-müde und quick-tot und ...

{Komm zu mir nach unten, dort ist es warm und feucht, kein Ofenrohr, aus dem die Hexe lauscht und aufschreibt, was du denkst, komm mit zu mir, nach unten, in die Welt unterm Tisch, in die Welt un­term Boden unterm Tisch, in die Welt unterm Dreck unterm Boden unterm Tisch, und lass dich rab­ziehen – rab, rab, rab – von mir und meinen Stängeln, erd­schwer, verlassen wir die Vasen der Zer­brechlichkeit, du wirst grün und erdig und das, was du immer schon warst.}

... und teufel-froh und nacht-weiß, nacht-weiß, nacht-weiß, ich weiß nichts mehr, ist der Ofen kalt und die Erde warm, ist der Tiger strotzend, kraft­los, schlafend, Papiertiger, Tintentiger, Leinwandtiger, Tontiger, ich weiß nichts, weiß höchstens, dass ich al­lein sein will, ­weil weil weil ...

Weil.
Dieses stumme Weil.
Das in der Luft hängt.
Satz-Ende-los.
Ohne Fortsetzung.
Dieses Weil mit drei schweigenden Punkten, dieses Weil, dem der Grund fehlt, in dem es ankern kann, dieses Weil, das ins Leere greift und niemals Antwort findet.
Antwort worauf?
Auf die Frage, warum ich hier bin, hier weile.
Künftiges und Vergan­genes sind ein- und dasselbe in zweierlei Masken: Sie teilen den Namen: Vergeb­lichkeit.

Explosion ohne Krach, knallweich, gedämpft, aus dem Loch kommt sie, die lautlose Explosion und weckt sie allesamt, die schlängelnde Pflanze wendet ihr rosa Gesicht zum Spie­gel, die Hexe Leben steckt ihren Kopfschimmer aus dem Ofen, der Tiger schlägt seine Pratze ins Tischtuch, aus dem Loch kommt die Ex­plosion. Mucksmäuschen-laut. Aus dem Loch zwischen meinem Zeige- und Mittelfinger fliegt, fließt, flirrt, flimmert die hellblaue Kugel in den Spiegel meiner selbst, ins Niemand-Bild, und der Spiegel zerbirst, ich kann mich nicht mehr se­hen, ich kann diesen Niemand nicht mehr sehen, der ich bin, was für eine Erleichterung, ihn nicht mehr sehen zu kön­nen, mich nicht mehr sehen zu können.

{Komm, komm, gut, gut! Der erste Schritt!, so die Pflanze.}

[Und der Tiger ist gefangen im Käfig der ewigen Wiederkehr, des endlosen Wiederkäuens, Morgen für Morgen bringt er das­selbe verweste Menschenfleisch, Morgen für Morgen zerfetzt er schon einmal Gefressenes, der Ti­ger, der laue, blaue Tiger.]

(Und die Hexe sagt, was hast du ge­tan?)

Und der Spiegel ist zerklirrt, und allein bin ich und sehe nur noch auf die Wand hinterm Spiegel, auf den leeren Rahmen, aus dem letzte Splitter tropfen, weil ... noch sitze ich ... das köstli­che Gift der Pflanze breitet sich nur langsam aus ... die Hexe hat an meinen Hals gehangen ein goldenes Totem zum Schutz ... zum Schutz wo­vor? ... kann mir keine Antwort ge­ben ... der Tiger faucht ... noch sitze ich, noch bin ich ich, noch drängt mich nichts, noch hock ich dort, noch kann ich aufsprin­gen und mit Vergeblichem beginnen.

Töne singen, die verwehen.
Worte wählen, die vergilben.
Bilder zeichnen, die verrotten.
Noch hock ich dort.
Dem Tiger folgen in die Nacht?
Der Hexe in den Ofen?
Der Pflanze in die Erde?
Noch weile ich im Weile-Stuhl und warte auf den Au­genblick, den Ohren­blick, an dem ich.
Den Knall.
Endlich hören werde.
Mein Ich ist nur der blaue Schwanz des Wortes endlich.

Noch sitze ich.
Noch bin ich ich.
Noch harre ich.
Noch weile ich.
Eine Weile.
Im Warum.
Ohne Weil.


Aus: Unter vier Augen. Hrsg.: Staatliche Kunsthalle Karlsruhe. Kerber Verlag.