Markus Orths

Interview: Das Zimmermädchen

Interview mit der Zeitschrift Schau ins Blau (Die Fragen stellten Stephanie Waldow und Agnes Bidmon)

 Herr Orths, nach Ihrem Studium haben Sie erst mehrere Jahre als Lehrer gearbeitet, bevor Sie zu schreiben begonnen haben. Fühlen Sie sich in irgendeiner Form als ‚Spätberufener’ und inwiefern hat Ihr Beruf ihr Schreiben beeinflusst, wenn man insbesondere an Ihren Bestseller Roman Lehrerzimmer denkt?

Erstmal hab ich immer schon geschrieben, nicht erst nach dem Lehrerberuf, sondern im Prinzip schon mit sechs, sieben Jahren. Mit zwölf Jahren entstand so ein Roman à la Karl May, mit neunzehn etwas Philippe-Djian-Mäßiges. Das Schreiben war immer schon für mich das Wichtigste, ich hab halt nur nie gedacht, dass man davon leben kann. Deswegen gab es diesen Brotberuf. Studiert habe ich aus Interesse, Philosophie und Literaturwissenschaft, und bin dann mehr oder weniger zufällig auch Lehrer geworden und nicht, weil ich das unbedingt wollte. Ich muss aber zugeben, dass mich nach dem Absprung aus der Schule das Buch „Lehrerzimmer“ schon eine gewisse Zeit über Wasser gehalten hat. Insofern war ich sehr froh, die Lehrer-Erfahrung gemacht zu haben.

Mit Das Zimmermädchen haben Sie seit ihrem Debüt 2001 nun bereits ihr sechstes Buch Veröffentlicht. Sind Sie dann so was wie ein regelrechter ‚Workaholic’, dass Sie so viele Bücher in so kurzer Zeit produzieren können, die ja auch alle von einem hohen Niveau sind? Und woher nehmen Sie all diese Ideen?

Zum einen kann ich da auch massiv widersprechen: Wenn man sich mal die Manuskriptseiten vor Augen hält, sind das ca. sieben- oder achthundert. Frank Schätzings Buch „Der Schwarm“ hat circa fünfzehnhundert. Das heißt mit anderen Worten: Meine Bücher sind relativ kurz und in sieben Jahren siebenhundert Seiten zu schreiben, halte ich für nicht viel, im Gegenteil, ich wünschte mir, ich hätte mehr Zeit und könnte das, was mir so im Kopf schwebt, noch mehr aufs Papier bringen. Ich halte mich, wie viele Schriftsteller, für im Grunde genommen etwas faul. Ich denke immer, dass ich etwas mehr tun könnte, als ich eigentlich tue. Insofern trifft ‚Workaholic’ leider nicht zu. Meine Selbstwahrnehmung ist einfach so, dass es zwar viele Bücher sind, aber nicht viel Textmenge. Andererseits ist in den letzten Jahren auch viel entstanden, was ich in der Schublade gelassen habe, oder auch viel rausgekürzt worden, so dass es natürlich schon mehr als siebenhundert Seiten in diesen sieben Jahren gewesen sind.

Der zweite Teil der Frage: Woher kommen die Ideen? Das ist ganz unterschiedlicher Natur. Wie im Fall vom Lehrerzimmer ist es immer auch ein Kern dessen, was man selber erlebt hat; der wird dann allerdings natürlich in der Satire auf völlig groteske Weise übertrieben. Ich bin kein Freund von zu realistischem Schreiben. Ich mag immer lieber entweder eine Verfremdung der Form, wie in der Satire, oder eben eine Imaginationskraft, also die Tatsache, dass ein Buch von irgendeiner Idee lebt, von etwas, das man erfindet. Jemand, der besonders gut riechen kann, jemand hört auf zu wachsen, ein Zoo erleidet „Schiffbruch mit Tiger“ usw. Es gibt immer sehr originelle, phantastische Erfindungen, und das ist eigentlich eher die Tradition, in der ich mich verstehe und weniger sozusagen das Abpinseln der Realität. Das wäre mir auf Dauer auch zu langweilig. Es gibt natürlich Schriftsteller, bei denen es auf hervorragende Weise gelingt, und es ist auch eine Herangehensweise ans Schreiben, aber nicht so sehr meine.
Ich fühle, dass ich entweder in der Übertreibung oder aber in der Imagination einen viel packenderen Zugriff auf Realität habe, als im Beschreiben. Thomas Bernhard sagte mal sinngemäß, nur in der Übertreibung lasse sich so etwas Wahrheit überhaupt darstellen. Da ist was dran.

Ihr neues, viel beachtetes Buch, das auch beim Bachmannpreis in diesem Jahr ausgezeichnet wurde, handelt ja von einem Zimmermädchen, das unter die Betten von Hotelgästen kriecht und so am ‚Leben der Anderen’ teilhat. Ist dieser Voyeurismus, den dieses Zimmermädchen Lynn praktiziert, eine Art, sich in fremde Identitäten zu flüchten, um keine eigene konstituieren zu müssen und um überhaupt noch in irgendeiner Form menschliche Beziehungen leben zu können, indem man in fremde Kleider schlüpft?

Ja beides, da würde ich zustimmen. Also, Burkhard Spinnen hatte da in Klagenfurt das Wort Vampirismus geprägt, das finde ich eigentlich sehr treffend, fast noch mehr als Voyeurismus. Lynn versucht, das Leben der Anderen auszusaugen und zu schauen: Wie gelingt denen das Leben? Was machen die überhaupt im Gegensatz zu mir? Und an der Quelle dessen steht natürlich ein Unbehagen mit dem eigenen Leben, ein eigentlich Nicht-Wissen, was Lynn mit ihrem Leben machen soll, ein krampfhaftes Sich-Festhalten an Ritualen, wie dieses Putzen und dieses Arbeiten. Und ich glaube, da liegt auch der existenzielle Gegenwartsbezug, das, was die Menschen und Leser an diesem Buch auch bei sich selbst finden, etwas, das, glaube ich, sehr viele Menschen kennen: Eine gewisse Sinnlosigkeit dessen, was man tut, eine Ermüdung. Das spiegelt sich in dieser Figur Lynn Zapatek wieder.

Inwiefern wird auch dem Leser eine Art Verantwortung übertragen, indem er ja die Beobachterin beobachtet, also somit an diesem Vampirismus auch partizipiert?

Ich fände es schön, wenn der Leser durch Lynns Geschichte beginnt, über sich und sein Leben nachzudenken: Woran halte ich mich fest? Was sind meine Rituale und Strukturen? Wo liegen meine Sicherheiten? Wie habe ich mir das Leben schön perfekt zurechtgelegt? Wo habe ich aufgehört, etwas an mich heranzulassen? Ich möchte den Leser verunsichern, aus seiner Behaglichkeit zerren, ihn somit zur Verantwortung aufrufen, die ihm für sein eigenes Leben aufgetragen ist. Insofern ist Literatur für mich immer Verunsicherung. Bloße Unterhaltungsliteratur ist dagegen immer Versicherung. Das ist völlig wertfrei gesprochen. Beide Bedürfnisse gibt es im Menschen, insofern ist es nur natürlich, wenn beide bedient werden. Und zweitens: Der Leser fühlt sich durch Lynns Handeln im idealen Fall natürlich auch entlarvt in seinem Voyeurismus oder Vampirismus. Und man könnte dieses Bild ja auch als Allegorie auf ein gesellschaftliches Phänomen verstehen. Wenn man sich all die Casting- Shows mal anguckt, Big Brother und Top Model und wie sie alle heißen, Superstar, dann saugt man ja als Zuschauer auch sozusagen das Leben der Anderen aus dem Fernseher heraus. Man ergötzt sich an diesen Peinlichkeiten, in denen die Anderen sich ergehen und lebt aber eigentlich nicht selber, sondern stellt sein eigenes Leben vor dem Fernseher ab und zieht die Befriedigung aus dem Leben der Anderen, auch aus dem Scheitern des Lebens der Anderen, also aus diesem Fertigmachen der Anderen. Es ist ein Gemisch aus Schadenfreude und, ja, vielleicht dann auch Mitleid mit dem Anderen, aber man lebt nicht selbst, sondern schaut den Anderen beim Leben zu.

Es ist ja auch ein Gefühl von Scham, was bei dem Leser entsteht, gerade weil Sie gesagt haben, es ist auch eine Leere, die auch dort dargestellt wird durch diesen Vampirismus. Also man muss sich in das Leben der Anderen hinein beißen um selbst leben zu können, weil auch das eigene Leben eigentlich so viel Leere hat. Ist dieses Gefühl der Scham, was dann beim Leser unter Umständen entsteht, auch die Scham darüber, dass eben auch das Leben des Lesers unter Umständen von dieser Leere befallen ist? Und ist das nicht auch ein ethischer Aspekt?

Ja, das ist richtig. Wir sprechen immer sehr allgemein jetzt über Leser und Menschen, und ich sage das ja auch. Ich will damit natürlich nicht leugnen, dass es auch wirklich sinnerfülltes, glückliches Leben gibt, aber ich glaube, gerade dieser andere Aspekt unserer Gesellschaft, eine Sinnleere, ein Nicht-mehr-zurecht-Kommen auch mit den vielfältigen Möglichkeiten, die es heutzutage gibt, das ist schon ein sehr wichtiger Aspekt. Und wenn man dann zur Ethik kommt, wäre meine Sache sicherlich schon die, dass es dem Menschen ein Stück weit aufgetragen ist, für sich und sein Leben Verantwortung zu übernehmen und zu schauen, was will ich eigentlich mit meinem Leben, was mach ich aus meinem Leben, aus der Zeit, die mir gegeben ist. Das ist jetzt noch vor einer Ethik, die sich auf den Anderen bezieht, aber es ist so eine Art Selbstethik, Selbsthygiene. Wie gehe ich mit meinem Leben um und was tue ich da? Und insofern ist das Buch für mich auch ein sehr existenzielles Buch, das sich genau dieser Frage stellt: Wie kann ich dem Leben, das sich mir zeigt, etwas abringen? Karl Jaspers hat mal dieses Begriffspaar von ‚Sichgeschenktwerden’ und ‚Sichausbleiben’ geprägt, und ich glaube, was im „Zimmermädchen“ beschrieben wird, ist dieses ‚Sichausbleiben’. Ein Mensch bleibt sich aus, er weiß nicht, was er machen soll, er sucht krampfhaft nach Sinn und scheitert letztlich. Das will ich nicht denunzieren, sondern einfach darstellen.

Also im Sinne eines Angebots an den Leser zum Weiterdenken?

Genau.

Welchen Stellenwert besitzt dann bei dieser Thematik, gerade bei der Konstitution der Identität, auch der Aspekt der Körperlichkeit? Die spielt ja auch in Das Zimmermädchen eine Rolle, indem Lynn ja auch an der Sexualität partizipiert, indem sie sich selbst befriedigt, wenn oben auf dem Bett Sexualität betrieben wird. Oder auch in ihrem Roman Catalina, in dem die Frau sich in eine andere Körperlichkeit, nämlich die eines Mannes, flüchtet? Ist das noch eine Form, um sich selbst spüren, ein Selbst konstituieren zu können?

Das ist, glaube ich, ein Hinweis auf die Vereinzelung des Menschen. Lynn bleibt ja eigentlich im Grunde allein und hat sowohl in der Kommunikation als auch im Sexualakt, also im Körperlichen, den Bezug zu den Menschen verloren. Mit Heinz, dem Geschäftsführer, hat sie einmal in der Woche ein Date, wodurch sie diesen Job bekommen hat; zu Chiara, der Prostituierten, fühlt sie sich hingezogen, man kann vielleicht sogar von Verliebtheit sprechen, aber in Wahrheit macht die Prostituierte das wohl nur, weil sie Geld dafür bekommt. Lynn verliert eigentlich die Möglichkeit einer Begegnung, sowohl in der Kommunikation als auch im Körperlichen, und ich denke mir mal, dass das schon auch ein Problem unserer Zeit ist, diese Überflutung von allen möglichen Reizen und Dingen, dass man wirklich diese einfache, grundlegende Kommunikation, das Zueinander-Finden nicht mehr so leben kann oder lebt, wie es vielleicht auch – ich will das jetzt nicht romantisieren –, aber wie es vielleicht schon früher anders geführt worden ist. Das Phänomen der ständigen Partnerwechsel ist, glaube ich, in der heutigen Zeit, sag ich jetzt mal, schon ein Hinweis darauf, dass da irgendwas nicht mehr stimmt. Dass irgendwo dieses Ungenügen an der Kommunikation und an der körperlichen Bindung da ist. Umgekehrt kann man dem natürlich auch entgegenhalten, dass früher aufgrund von gesellschaftlichen Normen die Frau beim Mann blieb, oder der Mann bei der Frau, und dass da natürlich sehr viel unter den Teppich gekehrt wurde, und dass man heute die Freiheit hat, das wirklich anders zu lösen. Aber ich glaube, das ist nur eine Seite der Medaille, ich glaube, das andere, was ich eben gesagt habe, spielt da auch eine große Rolle.

Gegen diese große Orientierungslosigkeit und Vereinzelung versucht Lynn ja sehr viele Rituale zu setzten. Sie gibt den Tagen Farben, sie macht immer diese Zahlenspiele mit den Zimmernummern und auch mit dem Krankenzimmer ihrer Mutter, sie legt sich immer dienstags unters Bett. Ist das eine Form – das wurde ja auch beim Bachmannpreis von Ijoma Mangold erwähnt –, eine Struktur ins Chaos oder eine Ordnung die Kontingenz des Lebens zu bringen? Also letztlich eine Form, den Nihilismus zu überwinden, der ja in vielerlei Form durch eben diese Kommunikationslosigkeit und vieles mehr in diesem Roman vorgeführt wird?

Ja, das kann man wirklich so sagen, dass sie sich quasi definiert über diese Rituale. Das ist es eigentlich, was ihr Leben ausmacht. Sie sucht zwar einen Sinn, aber im Grunde genommen findet sie diesen Sinn nur im Ritual. Gleichzeitig merkt sie, dass da was nicht stimmt, dass da irgendwas noch nicht genügend ist, dass das eigentlich ein Sich-selbst-etwas- Vormachen ist. Und deswegen glaube ich, dass der Akt des Unters-Bett-Gehens zweifach motiviert ist. Nämlich zunächst einmal tatsächlich als Rettung und Zufluchtsort vor dem Beim-Schnüffeln-Erwischtwerden: Also sie hat Angst, beim Schnüffeln erwischt zu werden und dann zwangsläufig diesen Job zu verlieren. Sie hat wirklich Angst davor, ihr Leben, so wie es jetzt ist, mit den Ritualen, die sie am Leben erhalten, zu verlieren. Gleichzeitig gibt es in ihr aber paradoxerweise auch eine Sehnsucht danach, diesen Job zu verlieren: Das ist für sie der Reiz, erwischt zu werden. Wenn Lynn diesen Job verliert, könnte sie vielleicht auch herausfinden, was sie wirklich will in ihrem Leben. Und in diesem Spannungsverhältnis – Angst davor und Sehnsucht danach – glaube ich, siedelt sich das unterm-Bett-Liegen an. Das wäre meine Interpretation.

Es heißt ja auch in Ihrem Text: „Wir leben in einer Welt der gleichzeitigen Gegenteile.“

Genau.

Es geht also auch darum, all diese Ambivalenzen auszuloten. Welche Rolle spielt dabei, also Im Bezug auf diese Chaos- und Ordnungsstruktur, dass Lynn im Hotel Eden putzt? Eden eben als paradiesisch konnotierter Ort der Wohlgeordnetheit des Kosmos – war das eine bewusste Namensgebung oder mehr...Zufall?

Zufall. Also mit Namen ist es wirklich schwierig. Entweder man hat gleich einen Namen oder man hat ihn nicht, und dann sucht man ewig, und dieses Hotel sollte Hotel „Edenkoben“ heißen, ich weiß auch nicht, wie mir dieser Name unterlaufen ist, das ist allerdings ein Ort in der Pfalz, den es wirklich gibt: Edenkoben. Das war mir anfangs nicht so bewusst. Als mir dann die Lektorin das sagte, hab ich gedacht: ja, stimmt, klar, Edenkoben in der Pfalz. Und damit wäre dieser Roman verortet gewesen, und das wollte ich nicht. In existenziellen Texten mag ich es nicht, wenn das Geschehen zu sehr an einem Platz spielt, ich möchte lieber, dass die Geschichte eine allumspannende Kraft bekommt, sozusagen etwas Archetypisches oder besser Allgemein-Menschliches, etwas, das wirklich überall spielen könnte, egal in welchem Kaff oder welcher Stadt, etwas, das alle Menschen auf der ganzen Welt angeht und betrifft. Und dann ist schlicht und ergreifend, muss ich sagen, aus Edenkoben Eden geworden. Und mir war das überhaupt nicht wichtig, dass man das auch mit dem Paradies gleichsetzen könnte. Das war nicht meine Absicht, ich hätte mir vielleicht noch etwas anderes überlegen sollen, man führt damit den Leser ja so ein bisschen in die falsche Richtung, aber es ist jetzt so.

Auch der Name Lynn ist zufällig entstanden. Sie sollte zunächst Hill heißen, Abkürzung von Hillary, aber das klang nicht gut, auch wäre es schwer gewesen zu begründen, weshalb die Mutter ihr einen englischen Namen gibt. So wurde aus Hill Lynn. Auch hier ein unbewusster Prozess: Lynn ist der Vorname des Produzenten, der die Verfilmung vom „Lehrerzimmer“ betreut. Und aus Lynn wurde dann beim Schreiben „Linda“, dieser Name ist genau der, den die Mutter im „Zimmermädchen“, die ich vor Augen hatte, Lynn gegeben hätte.

Könnte man Lynn auch als eine Art von Autorin bezeichnen, die also eine Art von Autorschaft lebt, indem sie ja an dem Leben der Anderen nicht nur partizipiert und es aussaugt, wie wir vorhin schon besprochen haben, sondern sich ja auch, während sie unter dem Bett liegt oder die Zimmer säubert, Geschichten ausmalt, also sich selbst Geschichten erzählt, in einer Phantasiewelt lebt?

Das war wirklich ein Impuls beim Schreiben. Ich frage mich immer, bevor ich loslege: Was hat das alles mit mir zu tun? Was hat also diese Lynn mit mir zu tun? Und ich sehe da sehr große Parallelen im Akt des Unterm-Bett-Liegens. Am Schreibtisch liege ich auch irgendwie unter dem Bett der Menschen und horche auf das, was sie mir gesagt haben oder denke nach, erinnere mich und krieche in die Köpfe von Anderen und fang natürlich an, Geschichten zu imaginieren. Also um eben nicht in diesem Realismus zu verharren. Und so ähnlich macht die Lynn das ja auch: oben ist quasi der Realismus, aber in ihrem Kopf spielen sich oft andere Geschichten ab. Insofern ist die Kernmetapher des Buchs, das Unterm-Bett-Liegen, sicherlich auch eine Allegorie auf den Beruf des Schriftstellers. Ebenso das Putzen, die Textbearbeitung, da sehe ich sehr große Parallelen: Wenn man eine Rohfassung des Textes hat, dauert es ewig, ehe dieser Text fertig geputzt, gekürzt, gestrichen, ergänzt ist und so weiter ist. Also das sind zwei Parallelen.

Beim Stichwort Allegorie fällt mir natürlich das allegorische Schreiben ein. Das hat mich natürlich zum einen an Benjamin erinnert, aber eben auch dieses Schreiben um Leerstellen herum. Und zwei Fragen: ist Ihr eigener Schreibprozess eben auch ein Schreiben um Leerstellen herum, also um etwas zu beschreiben, was letztendlich immer auch ein bisschen in der Schwebe gehalten wird, und woraus sich wiederum ein Angebot an den Leser ableitet, das eben auch weiter zu schreiben – also dass nicht nur die Figur Lynn, sondern auch der Leser mit in die Autorschaft einbezogen wird?

In der Literatur sind Leerstellen ja eigentlich mit das Wichtigste. Wenn man den Leser zuschüttet mit Erklärungen, Begründungen, Kommentaren, dann bleibt nichts mehr für den Leser übrig. Die Phantasie beim Lesen entsteht ja erst durch Leerstellen. Für mich sind die schönsten Geschichten die, die dann anfangen, wenn sie aufhören. Das heißt: Der Film beginnt erst, wenn das Buch zu Ende ist, im Kopf des Lesers, und natürlich auch zwischendrin beim Lesen. Insofern bin ich eigentlich kein großer Freund von Erklärungen und Begründungen und mag lieber das Angedeutete.
Ich würde daher auch ungern von einem Psychogramm sprechen. Psychogramme haben den Charakter des Absoluten: Ich weiß genau, wie ein solcher Mensch tickt, kenne sein Krankheitsbild, erstelle eine Diagnose, verschreibe eine Therapie, weiß genau, was zu tun ist, und am Ende mache ich einen Strich, und unten bleibt kein Rest mehr übrig. So ist der Mensch zum Glück nicht. Jeder hat sein Geheimnis, und es ist wichtig, dass er es behält, bei allen Bemühungen, den anderen zu verstehen. Mich interessieren aber genau diese Geheimnisse, dieses vielleicht Unerklärbare, die Brüche, die Abgründe, die Widersprüche. Viele fragten mich: Ist Lynn Kleptomanin? Ist sie Zwangsneurotikerin? Woher kommt ihre Besessenheit? Ich sage: Sie ist ein Mensch, sie hat keinen Stempel auf der Stirn, sie steckt in keiner Schublade, eine Zwangsneurotikerin würde, wenn man einen Psychologen fragte, niemals freiwillig aus der Routine ausbrechen und sich unters Bett legen. Lynn tut es. Sie ist ein Individuum, deren Brüche und Risse wichtig sind und sie zum Menschen machen. Vieles von dem, was sie tut, geschieht in der Übertreibung der Obsession und Zwanghaftigkeit, gewiss, aber durch diese Übertreibung kann es viel besser gelingen, einen Blick auf unsere eigenen versteckten Brüche und Risse zu werfen.

Diese Beobachterperspektive potenziert sich ja auch, indem Sie als Erzähler eine Beobachtung der Beobachterin einnehmen und der Leser noch mal beobachtet dann in der dritten Potenz quasi. Ist dann diese Beobachterperspektive nicht auch eine Art der Allegorie, indem sich dann die Leerstelle natürlich auch potenziert?

Was den Erzähler betrifft: Man kann ja sagen, man hat eine personale Erzählsituation, das heißt, man ist sehr nahe an Lynn dran. Man kriecht auch oft in ihren Kopf, und sie redet dann in der Ich-Perspektive, wenn man ihren Gedanken folgt. Und da gab es dann auch schon mal Stimmen, die gesagt haben, da mischt sich der Autor ein und gibt ihr so eine Art philosophischen Grundton, der nicht zu diesem Zimmermädchen passt. Da würde ich massiv widersprechen. Wenn sie jetzt z.B. Heidegger oder Kant oder Fichte oder Nietzsche zitieren würde, könnte man schon sagen, das ist nicht authentisch. (Obwohl man auch entgegenhalten könnte: Wir wissen nicht, was sie vorher gemacht hat. Vielleicht war sie ja Studentin der Philosophie.) Aber was Lynn in dem Buch denkt, sind allgemeine Gedanken, die ich jedem Menschen prinzipiell zuordnen und zutrauen würde. Es sind die gewöhnlichen existenziellen Fragen, die sich jeder Mensch irgendwann stellt. Und dann zu sagen, das traue ich einem Zimmermädchen nicht zu, halte ich schon für sehr arrogant, bis hin zu, ja, auch ein bisschen menschenverachtend, denn warum soll nicht ein Zimmermädchen auch solche existentiellen Gedanken haben?

In manchen Rezensionen wurde ihr Roman zum Teil auch als Novelle gelesen, was ja auch in vielen Punkten zutrifft, wenn man z.B. die klassischen Merkmale anlegen würde wie die ‚unerhörte Begebenheit’ des sich unters Bett Legens und ja doch auch diesen sehr einsträngigen narrativen Raum, Herr Steinert hat in diesem Zusammenhang von einem Kammerspiel gesprochen. Kann man Sie mit diesem Text auch vielleicht in die Tradition dieser neuen Novellistik um 2000 einordnen oder würden Sie dem widersprechen?

Die Gattungsbezeichnung ist eine heikle Sache. Mir war schon klar, dass es jetzt in jeder Kritik heißen wird, das wäre kein Roman. Dem kann man aber entgegenhalten: Wer sagt eigentlich, was ein Roman ist? Warum kann sich auch eine Gattung wie der Roman nicht auch mal wandeln? Die Autoren können den Roman neu erfinden oder definieren. Es ist natürlich ein Kurzroman, und wenn ich, muss ich jetzt mal polemisch sagen, jedes Fitzelchen, das mir irgendwie entgegen schwebt, und jedes Blatt und jeden Schritt beschreibe, dann komme ich auch auf tausend Seiten. Es geht doch auch in einem Roman um Verdichtung, darum, dass man die Sachen verknappt. Weil sonst auch jegliche Spannung verlorengeht. Und wenn man sagt, ein Roman hat größeres Personal als das „Zimmermädchen“, dann kann ich viele Romane in der Literaturgeschichte aufzählen mit wenigeren Leuten. Und wenn man die Form anspricht: Es gibt einen Roman von Wolf Haas, der nur dialogisch ist, oder Der Kuss der Spinnenfrau – nur Dialog mit Fußnoten. Ich würde also diese Gattungsbezeichnung nicht so eng fassen wie sie dann immer gemacht wird. Im Gegenteil sehe ich die Gattung Erzählung und Novelle als viel enger und genauer definiert, und da würde ich schon sagen, dass „Das Zimmermädchen“ doch letztlich auf keine der Gattungen Erzählung oder Novelle zu 100% zutrifft.
Andrerseits muss ich ehrlicherweise auch zugeben, dass die Gattungsbezeichnung auch verlagspolitische Gründe hat. Erzählungen verkaufen sich nicht, das ist ein Fakt. Wenn da „Erzählung“ drauf steht, ist das Buch tot verkaufstechnisch gesehen, mit „Novelle“ kann auch kaum jemand was anfangen, und wenn da gar nichts drauf steht, fragt man sich auch, was soll denn das jetzt sein, so dass viele Verlage ganz knallhart einfach „Roman“ drauf schreiben, obwohl, das gebe ich zu, dieses Buch im klassischen Sinne kein Roman ist. Aber das sind jetzt die zwei Seiten der Medaille: man kann offensiv sagen, der Roman ist im Wandel oder ist eine sehr breite, dehnbare Gattung, oder defensiv kann man auch sagen, es ist einfach ein Verkaufsargument. Ich möchte ja, dass viele Menschen das Buch lesen und davon in irgendeiner Form berührt werden.

Was ja auch für diese Novellentradition sprechen würde, eben auch als positives Element, um jetzt gegen diese Romanargumentation noch mit einzustimmen, wäre ja eben dieser Aspekt des Geschichten-Erfindens, also gerade auch die Geschichten in der Geschichte. Könnte man dann sagen, dass in Ihren Augen, um dem Buch auch diesbezüglich eine positive Konnotation mitzugeben, in all dieser Kommunikationslosigkeit der Moment des sich Geschichten-Ausmalens und Geschichten-Erfindens noch ein Moment ist in dieser unstrukturierten unteleologischen Welt, Sinn zu stiften für sich selbst und vielleicht sogar auch im Zusammenspiel mit dem Anderen.

Da würde ich jetzt persönlich für mich sprechen, dass es in meinem Fall natürlich zutrifft, dass ich meinen Lebens-Sinn in großen Teilen aus diesem Geschichtenerzählen und Spinnen und Fabulieren und Träumen ziehe. Insofern ist da diese Parallele sicherlich auch gegeben. Wie das jetzt bei anderen Menschen aussieht, ist natürlich sehr schwierig zu sagen.

Dann hoffen wir, lieber Herr Orths, dass Sie noch viel Stoff zum Erzählen und Spinnen und Fabulieren finden und wir, Ihre Leser, dadurch noch viel Anlass zum Träumen haben werden. Wir danken Ihnen sehr herzlich für dieses Gespräch.

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