Markus Orths

Existenzielle Kommunikation

Der Fächer unseres sprachlichen Miteinanders reicht vom belanglosen Smalltalk über vorwiegend sachlich-informative Besprechungen bis zu Begegnungen, die uns in unserm Wesen berühren und verändern. Literatur vermag solche Begegnungen zu stiften, erklärt der Schriftsteller Markus Orths im Gespräch mit kommpendium.

? Sie schreiben seit vielen Jahren sehr erfolgreich Erzählungen, Romane, Hörspiele. Wo haben Sie das Schreiben gelernt?

! Den Impuls gab in der fünften Klasse eine Deutschlehrerin, die uns immer wieder angehalten hat, selbst Geschichten zu schreiben. Das Handwerk gelernt habe ich hauptsächlich von meinen großen Vorbildern: Philipp Roth, Fjodor Dostojewski, Franz Kafka, Thomas Bernhard – schreiben lernen durch lesen. So war es bei mir.

? Mittlerweile vermitteln Sie selbst regelmäßig Schreibwilligen das Handwerkszeug. Lässt sich das Schreiben unterrichten und lernen wie das Schreinern oder Töpfern?

! Texte zu analysieren und zu begutachten, anderen Autoren über die Schulter zu schauen, neue Ideen zu finden, auf sprachliche Sorgfalt zu achten – das lässt sich lehren und weitergeben. Der Drang, schreiben zu müssen, nicht. Die Hingabe ans Schreiben müssen die Schreibenden mitbringen. Konkret sieht die Arbeit je nach Gruppe unterschiedlich aus: Die Teilnehmer von Schreibwerkstätten wie etwa am Literaturhaus Frankfurt bewerben sich in der Regel mit einem Text. Ich versuche, bei jedem Jungautor etwas zu finden, das schon sehr stark ist; das können die Ideen sein, die Assoziationen, aber auch die Sprachkraft. An Schulen geht es in erster Linie darum, die Kinder und Jugendlichen überhaupt erst ans Schreiben zu bringen, um erstes Erleben von Kreativität, gar nicht um Bewertungen.

? Welches sind Ihre optimalen Schreibbedingungen? Wann und wo gelingt es am besten?

! Am frühen Morgen, in den Stunden zwischen Nacht und Tag bis zur Mittagszeit: Ich sitze in der Bibliothek des Karlsruher Instituts für Technologie. Bis acht Uhr bin ich oft ganz allein. Dann trudeln allmählich die Studierenden ein, alles Techniker, brüten über ihren Gleichungen und Formeln und wundern sich über den Typ, der da in sein Laptop hämmert. Diese Arbeitsatmosphäre ist inspirierend und es gibt hier nichts, was mich ablenken kann.

? Erstellen Sie für Ihre Texte ein Konzept? Wissen Sie am Anfang bereits, wo oder wie Ihre Geschichte enden wird?

Ich weiß relativ früh, wohin das Ganze läuft. Ganz und gar ins Unbekannte, Offene zu schreiben halte ich für schwierig. Für mich ist es wichtig, das Schlussbild zu kennen. Auf dem Weg dahin geschieht dann sehr viel spielerisch, werde ich selbst auch überrascht durch neue Wendungen – oder auch einen neuen, so zunächst nicht vorgesehenen Schluss.

? Was unterscheidet einen Text von einem guten oder sogar sehr guten Text? Welche Merkmale muss er für Sie als Leser aufweisen?

! Ein entscheidendes Kriterium ist für mich als Leser die Energie, die der Text ausstrahlt, seine Dringlichkeit. Es gefällt mir, wenn ich spüre, dass ein Buch einfach geschrieben werden musste. Dann sind Genre und zugrundeliegende Literaturvorstellung für mich nicht wichtig. Dazu kommt die Sprachkraft – ganz gleich ob sie sich eine reduzierte, schnörkellose oder eine überbordende, barocke Form sucht. Meine persönliche Vorliebe gilt der Imagination, dem Phantastischen, der Übertreibung. Aber die Richtung ist für mich wie gesagt zweitrangig.

? Welche Bedeutung haben Ihre Leser für Sie und Ihr Schreiben? Achten Sie auf Lesefreundlichkeit?

! Frage eins heißt für mich: Warum packt mich dieses Thema, was hat es mit mir zu tun? Und nicht: Wie kann ich einen Bestseller schreiben? Aber ich will mit meinem Text ja auch andere erreichen. Deshalb lautet Frage zwei: Was ist an dem Stoff für andere interessant? Denn was wäre gewonnen durch einen genialen Wurf, den außer mir niemand versteht, weil er völlig verklausuliert geschrieben ist? Indem ich die Perspektive auf die Leser erweitere, öffne ich eine Tür in den Text. Der Leser soll in die Geschichte finden und ihr folgen können.

? Bewegt sich der literarische Text immer im kommunikativen Dreieck von Sender, Botschaft und Empfänger?

! Wenn ich den Text als Botschaft, den Leser als Empfänger und den Autor als Sender verstehe, haben Botschaft und Empfänger für mich absolute Priorität. Entscheidend ist nicht, was den Autor bewogen hat, den Text zu schreiben, sondern was der Text mit dem Leser macht. Ein kraftvoller Text spricht sozusagen für sich und nicht für den Autor. In Kakfas Texten beispielsweise steckt viel mehr als seine komplizierte Vater-Kiste, auf die ihre Interpretation durch die biografische Herangehensweise oft reduziert wird.

? Die berühmte Frage nach der Intention des Autors ist Ihnen also gar nicht so wichtig?

! Was der Autor uns mit einem Text sagen möchte, interessiert mich als Leser in der Tat weniger. Wir sollten uns unsere eigenen Meinungen bilden können. Gerade bei gesellschaftspolitischen Schriften halte ich Texte, die Fragen stellen, interessanter als solche die Antworten vorgeben.

? Und als Autor? Was treibt Sie zu schreiben?

! Wenn Menschen ausgehend von einem Text ein Gespräch führen, das nicht mehr wertend um den Text selbst kreist, ob er spannend oder witzig ist, sondern den Menschen thematisiert, unsere Abgründe und Sehnsüchte, unser Gelingen und Scheitern, dann sind wir an einem Punkt angekommen, den Karl Jaspers ‚existenzielle Kommunikation‘ nennt. Und an diesen Punkt zu gelangen ist das Schönste, was einem Autor mit seinem Text gelingen kann. Ich wünsche mir, solche existenziellen Gespräche anzuregen – zwischen dem Leser und mir, zwischen mehreren Lesern, zwischen einer Figur und dem Leser …

In der öffentlichen Situation einer Lesung ist der Raum für so persönliche Gespräche oft nicht gegeben. Im Freundeskreis sind sie leichter möglich. Aber der Autor muss auch gar nicht als Person anwesend sein. Wenn Kafka oder Dostojewski mit ihrem Werk heute ein solches Gespräch über uns Menschen entfachen, sitzen sie auch nicht mit am Tisch – und sind mit ihrem Denken und ihrer Sprache doch dabei.

? Was kann die Literatur besonders gut? Gibt es etwas, das die Unternehmenskommunikation und der Journalismus von der Literatur lernen können und lernen sollten?

! Literatur kann im Leser innere Bilder einer Situation oder einer Figur hervorzaubern, die er zuvor nicht sah und die – anders als im Film – jeder individuell ausfüllt. Sie kann eine Sensibilität für die Möglichkeiten der Sprache schaffen, die zurzeit ein wenig verloren geht. Sensibilität für das Ausufernde der Sprache wie für das Stille, für die ganze Bandbreite dessen, was sprachlich möglich ist. Sie kann berühren, belustigen, aber auch nachdenklich machen, Wege aufzeigen.

? Auch manipulieren?

! Auch das, indem sie Emotionen weckt oder Sympathien lenkt. Die Literatur kann sehr viel, darf aber nicht alles: Respektlosigkeit und Geschmacklosigkeit bilden für mich die Grenzen.

? Sie gelten als Meister der kurzen Form. In Ihrem zuletzt veröffentlichten Erzählband versetzen Sie Ihre Figuren einmal mehr in surreale Situationen. Einer mauert sich ein, ein anderer spielt Snooker um sein Leben, ein Dritter kreiert seine Jugendliebe neu. Ihr letzter Roman schildert das Leben eines Mannes, der eine Tarnkappe findet. Warum gehen Sie mit Ihren Storys so häufig an die Grenze des Realen? Ist die Wirklichkeit nicht bizarr genug?

! Oh doch. Meine Geschichten sind nicht halb so bizarr wie die Wirklichkeit. Hunger, Kriege, Finanzblase … Wir wissen, wie grotesk es zugeht, fühlen uns aber ohnmächtig, etwas an der Absurdität der Welt zu ändern. Diese Machtlosigkeit drückt sich in meinen Figuren aus, deren Aufbruchsversuche ja regelmäßig scheitern. Am Ende werden sie alle mit der Vergeblichkeit ihrer Anstrengung konfrontiert. Das klingt sehr resignativ – ist es auch. Angesichts der Absurdität der Wirklichkeit gibt es eigentlich nur drei Möglichkeiten: Entweder man wird depressiv und bringt sich um oder man wird Idealist und reibt sich völlig auf oder man gibt sich resignativ solchem vergeblichen Treiben hin. Diesen letzten Weg wählen 95 Prozent. Ich selbst auch. Mein Schreiben – selbst wenn es den einen oder anderen zum Nachdenken bewegt – ändert nichts. Es dient mir als Ventil, immerhin.

? ‚Irgendwann ist Schluss‘ – der titelgebende Satz taucht in jeder Geschichte des neuen Bands auf; in unterschiedlichsten Kontexten wird er geschrien, geflüstert, geseufzt. Er hat für Sie vermutlich auch eine kontextunabhängige, eine existenzielle Bedeutung.

! Ja, und zwar eine doppelte: Er meint Aus, Ende, tot, vorbei! und Es reicht, bis hier hin und nicht weiter, ab sofort wird alles anders! In dem Satz steckt der Schlusspunkt, der gesetzt wird, und zugleich der Neuanfang, der immer wieder gemacht werden muss.

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