Markus Orths

Die Gedichte von Max Sessner

Küchen und Züge (2005)

Das Wort „packend“ scheint re­serviert zu sein für Romane, für Erzählungen, für Prosa mit Handlung, Span­nung, Dramaturgie und Geschichte. Wer könnte je zu einem Ge­dichtband sagen: Ein packendes Buch? Hier ist es so. Max Sessners Buch packt, es packt zu, vom ersten Augenblick an. Und lässt nicht mehr los. „Küchen und Züge“ ist eins dieser wenigen Bücher: Das man immer wieder le­sen will. Das man immer wieder lesen wird.

Sind das überhaupt Gedichte? Oder vielleicht Prosa­miniaturen? Für den Autor selbst ist die Antwort klar: Gedichte, sagt er. Und seine Gedichte öffnen auf wenigen Zeilen eine eigene Welt. Es ist eine melancholische Welt, die alles mit einem leichten Schleier bedeckt, es sind Szenen, Momentaufnahmen, Blicke, Gesten, Situ­ationen, Stimmungen, aber dahinter lauern existenzielle Risse oder Ab­gründe, dahinter steht die Frage nach dem Sinn von allem und eine Verzweiflung über die Dinge des Lebens, die wir nur schwer hinneh­men können: Auf die Fragen der Tanten nach dem, was er einmal werden wolle, lautet die Antwort eines Kindes: „...der Geist sag ich eines / Jun­gen der voriges Jahr beim Schwimmen ertrank / sein Fahrrad stand noch im Winter / vorm Freibad...“

Max Sessners Gedichte sind geprägt von einer eigenen, unver­wech­selbaren Stimme. Ein präzises Gefühl für Rhtyhmus lässt ihn den Pro­safluss seiner Sprechgesänge oft an unerwarteten Stellen unterbre­chen. Ein wiegender, tragender Sound lullt den Leser ein, Musik ist das, es klingt wie Beschwörungsformeln, die einen ins Buch hineinsaugen und nicht mehr loslassen. Sessner erschafft grandiose Bilder, die man nicht vergessen kann: Da sitzt jemand zum Beispiel in einem Mee­ting, in der sich die Gespräche über Bilanzen und Geschäftser­folge drehen, er blickt hoch zum Him­mel und kann plötzlich in den Flug­zeugen die Gesichter der Men­schen erkennen, „das kleinste scheint zu schweben / es ist das Gesicht eines Jungen / der einge­schlafen ist auf seinen / Knien schaukelt eine kleine / Giraffe aus Stoff sie ist hellwach / den Schlaf des Jungen für immer / verlas­send blickt sie zu mir hinunter / und ich schaue zu ihr hoch.“ In wenigen Zeilen überspringt Sessner Zeit, Raum, ein gesamtes Le­ben; in einem einzigen kleinen Blick fängt er die lange verlorene Kindheit ein, knüpft Sehnsucht und Trauer an die kalte Bissigkeit der ‚erwachsenen’ Gegenwart.

Oft steht Sessner auf der Seite derer, die scheinbar verloren ha­ben, auf der Seite der Kleinen, der Verachteten, der Traurigen, der Unglücklichen. Und immer wieder überrascht er uns durch Skurri­litäten, durch magischen Realismus, wenn zum Beispiel aus Bluts­tropfen „kleine verschlagene Männ­chen“ werden, oder wenn Kü­chen an Bahndämmen entlang treiben, oder wenn man mit einem Beinlosen die Geräusch der Beine hört, die im Schlaf um ihn he­rum­laufen. Und nicht zuletzt bordet das Buch über vor herausra­genden, fast aphoristischen Sätzen, die einem immer wieder die Luft nehmen. „Das wären schöne letzte Worte gewesen aber was soll man sagen man lebt“ oder „so vergeht mir die Zeit“ oder „von überallher tragen sie jetzt den Abend zusammen“ oder „Ich bin das kann man sagen ein Hund der mir zugelau­fen ist“ oder „Der Tod probiert schon mal meine Kleider an“.

Und dabei kommen die Gedichte so federleicht daher, so, als hätte der Autor sie mal eben kurz hingeworfen, mit einer atembe­raubenden Mühelosigkeit. Da ist nichts Angestrengtes zu erken­nen, da wirkt kein Wort irgendwie aufs Papier gezwungen, da sieht man nie den Schweiß des Schreibenden. Und genau das ist die höchste Kunst. Denn gerade wenn ein Buch die Aura der Mühe­loigkeit ausstrahlt, ist es oft so, dass der Autor lange daran gear­beitet hat. Tatsächlich hat Max Sessner Jahre an diesem Band ge­schrieben und gefeilt, hat sich nicht zu schnell zufrieden gegeben, hat eine minutiöse Auswahl getroffen und herausgekommen ist ein Buch, das für Furore sorgen wird, früher oder später, am liebsten so früh wie möglich, denn es ist nicht nur ein Buch für Lyrikfreaks, nicht nur ein Buch für alle, die Literatur lieben, son­dern ein Buch für jeden Menschen, weil es verständlich, poetisch, bildreich und ergreifend an die existenziellen Fragen rührt, die jeden Menschen von jeher um­treiben. Viele Bücher kommen und gehen diese Tage, „Küchen und Züge“ wird bleiben.

 

Warum gerade heute? (2012)

Ach dieses Einsamkeitsgeräusch da sind sich alle einig in Worte ist das nur sehr mangelhaft zu fassen“, schreibt Max Sessner und wird dennoch nicht müde, für dieses Geräusch der Einsamkeit immer neue Worte zu suchen, Bilder und Musik im Rhythmus der Zeilen.

Das Geräusch der Einsamkeit ist zugleich Melancholie über das Vergangene und Verzweiflung angesichts des Künftigen. Es ist Trauer über das, was hinter uns liegt, und Hilflosigkeit im Ausblick auf das, was unausweichlich kommt, der eigene Tod. „So stelle ich mir das Jenseits vor mein altes Kinderzimmer“: Vergangenes und Künftiges sind untrennbar verknüpft. Die Frage: Wer „füttert diesen Raum mit Zeit“ muss auf immer unbeantwortet bleiben, weil Zeit sich nicht halten lässt. Sie ist bereits zerronnen, zerrinnt gerade oder wird zerrinnen, sie ist „der Abstand zwischen den Wörtern“, „das Niegesagte“, „und am Ende ist wieder alles so wie es nie war“.

Zugleich versuchen Sessners Gedichte, diese Einsamkeit zu bannen, im Hier und Jetzt: bei den Dingen, Wörtern, Menschen und Außenseitern, die man mag, mit liebevollem oder ernüchtertem oder verwundertem Blick auf das Leben. „Am Ende sind wir was wir sehen“, heißt es. Der Blick ist das Erste, in der eigenen Brille spiegelt sich die Welt, die dann in Sprache gefasst wird. Durch Sehen und Sprechen entsteht alles, die Gedichtsammlung ist ein Archiv der besonderen Augenblicke, die das Wundersame im Alltäglichen erfahrbar machen.

Nur der Blick auf sich selbst fällt schwer. Wir wissen nicht, wer wir sind. Wir sind immer jemand anderes als der, der wir zu sein glauben. Wenn wir überhaupt daran glauben, jemand zu sein und nicht nur „ein kleines sterbliches Ding das niemand beachtet“. Es ist schwer, einen Stand zu gewinnen in der Fülle der Eindrücke des Lebens. Das Gesicht des alten Manns, der sich abends am Küchentisch rasiert, bleibt noch länger im Spiegel haften als der Mann selbst, der schon ins Bett gegangen ist. Ein anderes Gesicht erinnert „an das Schicksal von Zucker sich aufzulösen in schmelzender Süße.“ Das lyrische Ich aus dem Gedicht Wir sieht sich selbst und seine Geliebte am Schluss wie aus weiter Ferne, aber „wer war wer ich konnte es nicht sagen“. In Schöner Oktober kommt das Ich im Traum seines Hundes an, „und wenn ich am Morgen erwache ist das Bett bereits leer“. Und wenn „wir“ in Am Ufer „zu Kieseln“ werden, ist klar: Wir lösen uns auf, verschwimmen, verwischen. Aber das ist nicht (nur) als Selbstzerfleischung gemeint, es ist auch eine Chance, die wir haben, dieses Selbst, das wir durch die Welt tragen, abzuladen, zu vergessen, aufzugehen in etwas anderem, in Menschen, Tieren („Diese Krähe heute morgen und die Frage wie es in ihr aussieht“) oder in Dingen („Wenn wir die Dinge nicht lieben, suchen sie uns heim“). Wir werden zu Schwänen oder zu Mänteln oder „wir führen das Leben von trockenem Brot“. In alldem liegt die Chance für einen Rückzug aus dem ewigen Kreisen um sich selbst und um das, was man werden will und doch nicht werden kann. Umgekehrt bekommen auch die Dinge ein Eigenleben, man hört „das Gelächter der Wohnung“, ein Fenster schaut „verwundert“, „Rosen öffnen ihre Türen“, Wäsche flattert „wie feuchte Zungen, die nach Worten suchen“. Die Dinge sind nicht selten verwoben mit Vergangenem, Erinnerungen, Verlorenem, sie stehen für das Leblose, Tote, in dem doch, wenn man genau hinsieht, so viel Leben steckt.

„Mein Gedicht will kein Gedicht mehr sein es hat sich auf den Weg gemacht“, auf den Weg, will ich hinzufügen, in die wesentlichen Fragen und Stimmungen menschlicher Existenz. Auf den Weg, den anderen im Innersten zu berühren. Ihn teilhaben zu lassen an einem melancholischen, aber sinnlichen Blick auf unser Leben im Angesicht des Todes. „Vielleicht auch – doch komm mir nicht damit – die kleine Freude sterblich zu sein“. Diese Freude, sterblich zu sein, ist eine Freude, weil sie Trost spendet angesichts der Bitterkeit des verlorenen Vergangenen und der Einsamkeit des Daseins, sie ist eine Freude, weil der Tod, der „Knochenrüttler“, letztlich eine Erlösung darstellt vom Leiden am Leben und Denken und Kreisen um sich selbst. Deshalb zieht es uns zu den (toten) Dingen, die nicht leiden können; zu den Tieren, die nicht über den Tod nachdenken können; zu den Menschen, in der Hoffnung, dort etwas anderes zu finden als das, was man in sich selbst sieht. Aber sie ist „klein“, die Freude, weil sie gleichzeitig dem Tod nichts von seiner Absolutheit und seinem Schrecken nehmen kann, die Freude wird aufgehoben im Ausruf „doch komm mir nicht damit“, angesichts des langsamen Übergangs in die Nichtexistenz, „während das Leben an uns vorbeizieht“. „Wir kehren nie zurück heißt es“ und „nie werde ich erfahren warum ich hier bin“, „denn nichts gehört uns wirklich“, „eine Wolke aus Staub die sich auf Mutters Rosen legt dann Stille wir hören einen Bart rauschen doch es ist nichts und wieder nur nichts“, „liegst du auch gut man braucht ja nicht mehr viel während die Seele sich herumtreibt“, „ist jemand hier unsterblich“?

Max Sessners Gedichte berühren mich zutiefst. Über all seinen Zeilen liegt die Musik der Einsamkeit, geboren aus der Vereinzelung des Menschen angesichts des für ihn und nur für ihn selbst bestimmten Endes. Dass man beim Lesen seiner Gedichte dennoch nicht in den Abgrund der Depression fällt, liegt einerseits an der Form: Federleicht schweben die Gedichte, man könnte sie auch ohne Zeilenumbruch als Prosa-Geschichten lesen, aber durch die Umbrüche entsteht ein ganz eigener Sound, manchmal bewusst verwirrend, manchmal einfach mitreißend. Es liegt andererseits auch daran, dass die Gedichte ein stetes Anrennen gegen den erkannten Abgrund sind. Beim Lesen fällt man aus der Zeit heraus, vergisst das Schwere und ist für einen Augenblick mit dem Autor gemeinsam ein glücklicher Sisyphos. Nicht nur „ein Wort wäscht das andere“, sondern ein Blick wäscht den anderen, es ist, als ob wir das Sehen neu lernen, auf Dinge, die wir schon kennen, auf Menschen, Situationen, auf Unerhörtes, auch auf Skurrilitäten, auf alles, was im Geräusch des Lebensbetriebs untergeht, es entstehen immer wieder atemberaubende Bilder, wie von Zauberhand, die noch lange vor dem Auge schweben. „Am Ende ist man was man sieht“, und Max Sessners Gedichte schaffen es, den Worten das Worthafte zu nehmen und unmittelbare Bilder zu erwecken, als sei man nicht Leser, sondern Erleber, als steckte man in genau der Situation, die geschildert wird. Für mich ist jedes Gedicht wie eine kleine Reise, aber nicht mit dem Flugzeug, sondern zu Fuß, weil man bei aller Freude über das Wunderbare des gerade Gesehenen nie die Nähe zur Erde verliert, die Nähe zum Ende.

 

Beide Bände erschienen im
Droschl Verlag, Wien